Robert Appel: Mitte/Ende der 70-er Jahre war die Balair auch auf dem Hadj-Markt tätig. Da die Pilgersaison damals in die späten Herbst-Wochen fiel, war der Hadj für die Balair eine willkommene Gelegenheit, die Flugzeuge in der Zwischensaison auszulasten.
Hadj (gespr. Hadsch) ist die Bezeichnung der Pflicht eines jeden Muslims, mindestens einmal im Leben eine Pilgerfahrt nach Mekka zu unternehmen. Das ist nicht nur eine fromme und für die Gläubigen aus Entwicklungsländern eine teure Mission, sondern für verschiedene Industrien in Saudi Arabien natürlich auch ein Riesengeschäft. Die Pilger der verschiedenen Ländern werden in Allotmens von den beteiligten Regierungen über entsprechende Transportaufträge disponiert. Die Airlines müssen entsprechende Ops-Bewilligungen für Jeddah (Saudi Arabien) erwerben, und dazu benötigt man einen saudischen „Sponsor“, wobei das Wort selbst nicht ganz das umschreibt, was wir normalerweise darunter verstehen. Nicht nur damit verdienen die saudischen Geschäftsleute während der Pilgerzeit einen guten Batzen; die Stadt lebt buchstäblich vom Hadj. Wir flogen Hadj für hauptsächlich Nigerianische Pilgerinnen und Pilger, aber auch für Gambia und andere Länder. Ein Hadj-Einsatz bestand immer aus zwei Phasen: 1. XXX-JED und nach etwa zwei Wochen die 2. Phase: JED-XXX.
Für den grössten Nigeria-Hadj im 1977 musste die Balair sowohl in Lagos (Nigeria) als auch in Jeddah (Saudi Arabien) eigentliche Basen aufbauen, und zwar mit allem Drum und Dran. Ich selbst war damals als junger OPS-Angestellter zwei Wochen Teil der Delegation in der 2. Phase in Jeddah, also für die Rückflüge der nunmehr geläuterten Pilger eingeteilt. Das gibt Stoff für Erzählungen!
Jeddah (JED)
In JED hatte Ronnie Böhlen im Vorfeld ein eigenes Apartment-Haus für die Besatzungen und Boden-Crews, das „Red House“ mieten können. Dort waltete unser Innkeeper, Christian Burkhardt (F/A und Cargo-Loadmaster), in Personalunion als Gouvernante und Koch. Legendär waren seine Spiegeleier, seine Spiegeleier und hin und wieder Spiegeleier. Zu trinken gabs das alkoholfreie Moussi-Bier (noch heute läuft bei mir beim „Genuss“ von alkoholfreiem Bier der Jeddah-Film ab), und Mineralwasser.
Bilder (R. Appel): Das Jeddah Crewhouse, eine traumhafte Nachbarschaft und unser Driver „Howard“, der dem Vernehmen nach seinen Tee auch schon mit Kühlerwasser anrichtete.
Für unsere Transporte hatten wir einen eigenen Chauffeur samt Minivan. Dieser brachte uns jeweils zur vermuteten Ankunftszeit auf den Flughafen. Eine Kommunikation mit unserer Ops oder gar mit dem Flugzeug war nämlich über terrestrische Kanäle praktisch unmöglich, über Berna Radio waren wir im Crewhouse nicht erreichbar, und auf dem Flughafen wusste der Handling Agent meistens auch nichts über unsere HB-IDZ. Da musste man sich eben an andere Besatzungen wenden: „May I use your HF-set?“ und sass plötzlich in deren Cockpit, wo man den Kurzwellen-Funk selber bedienen musste. Man half sich gegenseitig, und irgendwie klappte es immer. Wir waren da autark und die Besatzungen meldeten die Movements via Berna Radio jeweils an die OPS. Also keine publizierten Schedules, Ops Plans, Handling Requests etc.
Für uns, der Boden-Crew, war es technisch und zeitlich praktisch unmöglich, einen Airport Badge zu bekommen. Wir mussten uns so behelfen, dass wir sowohl auf der Incoming- als auch auf der Outgoing General Declaration als „Additional Crew Members“ verzeichnet waren, um Zutritt zum Tarmac zu erhalten. Was natürlich völlig illegal war und wir somit eigentlich mit einem Fuss stets im Gefängnis standen…
Mein Ausweis für den Jeddah Airport (den ich bei Androhung von Gefängnis wieder hätte abgeben müssen). Dieser Ausweis (in der Grösse der damaligen blauen CH-Identitätskarten) war dann der Gag jeder Stammtischrunde: Ich konnte mich als Saudisch/Schweizerischer Doppelbürger ausgeben…
Unsere Passagiere waren schon seit Stunden auf dem Airport und warteten im Hadj Camp auf ihren Abflug. Diese „Warteräume“ waren eng, nach Nationalitäten getrennt, aber alle in einem hygienischen Zustand, der jeder Beschreibung spottete. Die Duftfahne war schon von weither deutlich wahrnehmbar, wobei „unser“ Warteraum jedoch am meisten stinkte.
Unsere Aufgabe als Bodencrew bestand hauptsächlich aus der Koordination mit dem Handling Agent (einfacher gesagt als getan), sowie der Kontrolle, dass die Passagiere nur leichtes Handgepäck ins Flugzeug nahmen (noch einfacher gesagt als getan). Die Paxen (die Frauen) trugen nämlich nebst einem riesigen Volumen an Gepäck auch ihre Blechnäpfe mit Food (mehrheitlich klebrigem und öligen Maniok-Brei) auf dem Kopf und wollten so auch einsteigen, was allen Vorstellungen von Cabin Safety zuwiderlief. Die Herren hingegen klammerten sich eher an ihre in den Souks überteuert erworbenen Fernseh-Apparate. Diese Leuten mussten wir uns entgegenstellen und überzeugen, das „Handgepäck“ vor dem Flugzeug zu deponieren, war mehr als schwierig und aufreibend (ist es heutzutage bei den Budget-Carriers eigentlich besser??).
Nach dem Boarding mussten wir jeweils die 20 stärksten Männer wieder aus dem Flugzeug holen, damit diese das Handgepäck in die Bellies luden. Dort liefen dann meist die Töpfe mit dem Brei aus, welcher sich dann auf dem Gepäck und den Belly-Böden gleichmässig verteilte. Eine Sonderreinigung (nicht nur) der Gepäck-Holds am Ende einer Hadj-Ops war deshalb unabdingbare Voraussetzung, damit das Flugzeug wieder seinem eigentlichen Zweck zugeführt werden konnte.
Die Krönung eines jeden Abfluges war dann, in der immer übler riechenden und stickigen Kabine (ohne AC) bei etwa 45°, die stichprobenartige Kontrolle der Pässe im Sichtvergleich mit dem Pax Manifest durch saudische Polizeibeamte – normalerweise nicht der Typ Mensch, mit dem man gerne in die Ferien reisen würde. Eine allfällige Diskrepanz hätte böse und zeitraubende Folgen gehabt.
Die Kabinenbesatzungen, auch nicht zu beneiden, mussten den Passagieren den Gebrauch von Gabeln und Messer zeigen, mit welchem diese ihre Swissco-Foodschalen leer essen konnten (mit Besteck, weil sie sich sonst die Finger verbrannten), sondern auch der Toiletten und dabei darauf achten, dass diesen Instruktionen Folge geleistet werden. Dafür war jeweils mindestens eine Person vor die Toiletten delegiert. Die Passagiere hatten nämlich ganz eigene Vorstellungen über die körperlichen Erleichterungsmethoden. Auch wäre es für sie das natürlichste gewesen, ihre Malzeiten auf einem kleinen offenen Feuerchen auf dem Kabinenboden anzuwärmen. So etwas geschah auch wirklich!
Am Ende der Pilgerfahrt, also auf der Heimreise nach Nigeria, waren die Passagiere meistens ziemlich erschöpft und in schlechtem Gesundheitszustand. Das war ihnen aber wohl egal, denn sie hatten ihre muslimische Lebensplicht ja erfüllt und waren glücklich – die nächste Station war ja das Paradies. Es gibt die Story eines Mannes, der kurz nach dem Boarding in Jeddah verschied. Seine Sitznachbarn stellten ihn schlafend; sie wollten unbedingt verhindern, dass die Leiche wieder ausgeladen und so das Heimatland nicht erreichen würde. Die Besatzung bekam das während des Flugs jedoch mit, machten aber kein Aufhebens daraus: Sie wollten nicht einem unnötigen Papierkrieg ausgesetzt sein, denn man wusste ja nicht, was einem dabei blühen konnte! Dafür durften sie dann zusehen (und das laute Krachen anhören), wie der tote Mann nach der mittlerweile eingesetzten Totenstarre zuerst so „behandelt“ werden musste, damit man ihn überhaupt aus dem Sitz entfernen und aus dem Flugzeug tragen konnte…
Lagos (LOS)
Für die Maintenance konnte die Delegation auf dem Flughafen eine alte Wellblechhütte mieten, die natürlich streng abgesichert und bewacht werden musste. Meist schlief der Wachmann aber besser und entspannter als unsere Delegation. Es gibt die Story eines Ground Engineers, der zu diesem Lager ging und gerade zusehen musste, wie ein Nigerianer mit geklauten Beuteln Racasan flüchtete. Racasan, das war das blaue Zeugs, welches man in die Flugzeugtoiletten schüttete – hochgiftig! Vermutlich hatte der Mann angenommen, das sei Suppenpulver! Der Ground Engineer konnte ihm nur noch „E Guete!“ nachrufen…
Es gibt noch ein weiteres interessantes Vorkommnis rund um diese Maintenance-Baracke und die Watchmen:
Heinz Zürcher in spezieller Hadj-Uniform
Als sich Ende der 70-er Jahre die Pilgersaison in Richtung Sommer verschob, war es dann zu Ende mit den Hadj-Einsätzen. Niemand war wirklich traurig darüber, vielleicht ausser mir, der ich als junger OPS-Angestellter mit viel Sinn für Abenteuer diese Einsätze als willkommene Bereicherung ansah…